Auch funktionell noch nicht voll ausgereifte, operativ aus dem Hodengewebe gewonnene Spermien können mit Hilfe der ICSI-Methodik für eine erfolgreiche fortpflanzungsmedizinische Behandlung verwendet werden.
Die TESE eröffnet eine Chance auf Elternschaft für Paare, bei denen der Mann in der Samenflüssigkeit keine oder selbst für eine ICSI-Behandlung nur ungeeignete (z.B. „tote“) Spermien hat. Beim Fehlen von Spermien in der Samenflüssigkeit (Azoospermie) wird zwischen „obstruktiver Azoospermie“ (OA) und „nicht-obstruktiver Azoospermie“ (NOA) unterschieden.
OA: Es besteht keine Durchgängigkeit der ableitenden Samenwege (z.B. im Bereich des Nebenhodens oder des Samenleiters). Die Samenzellbildung (Spermatogenese) im Hoden ist intakt. Ursächlich für eine OA sind zumeist eine Vasektomie (Durchtrennung der Samenleiter), Entzündungen oder angeborene Fehlbildungen der Samenwege. Auch Störungen der Ejakulation, z.B. bei Diabetes mellitus oder nach Operationen im Unterbauch, können zur Symptomatik einer OA führen.
NOA: Es liegt ein Defekt des Hodengewebes und/oder der Spermatogenese vor. Betroffen ist hiervon ca. 1% aller Männer. Ursächlich hierfür können eine ganze Reihe von Faktoren sein, u.a. angeborenes Fehlen von Keimzellen, Zustand nach Hodenhochstand, Entzündung, chromosomale Störungen, hormonelle Unterfunktion, vorangegangene Chemotherapie und/oder Bestrahlung und – gar nicht so selten – eine hochdosierte Behandlung mit Testosteron.
Bei den meisten Fällen von OA und NOA kann der Versuch einer operativen Gewinnung von Spermien unternommen werden. Bewährt hat sich hierbei das von uns entwickelte Kryo-TESE-Konzept (Jezek et al., 1998), (Fischer et al., 1996).
Das Verfahren gründet sich auf einen ambulanten operativen Eingriff (Dauer ca. 30 Minuten), bei dem zumeist unter Vollnarkose ein ca. 2 cm langer Einschnitt in die Haut des Hodensacks erfolgt. Anschließend werden die darunter liegenden Hodenhüllen präpariert und die Hodenkapsel freigelegt. Diese wird an einer oder mehreren Stellen auf einer Länge von 3-4 mm eingeritzt und das hervorquellende Hodengewebe mit einer feinen Federschere abgetragen. In der Regel werden pro Hoden 5 – 6 Gewebsproben (Biopsien) von ca. Streichholzkopfgröße entnommen. Eine dieser Biopsien wird in eine Fixierlösung für eine spätere histologische Begutachtung überführt (u.a. Ausschluss eines frühen Hodentumors). Die übrigen Proben werden in eine Nährlösung verbracht und für die Prozedur der „postoperativen Test-TESE“ (s.u.) bereitgestellt. Nach der Gewebsentnahme erfolgt ein schichtweiser Verschluss von Hodenkapsel, Hodenhüllen und Haut mit selbstauflösendem Nahtmaterial. Die Entlassung des Patienten findet ca. 3 – 4 Stunden später statt.
Die Rate von Komplikationen (z.B. Entwicklung von Blutergüssen im Hodensack), die einer operativen Nachbehandlung bedürfen, liegt bei ca. 1-2%. Zu einem nachfolgenden Mangel an männlichem Geschlechtshormon (Testosteron) kommt es im Regelfall nicht.
Noch vor Entlassung des Patienten erfolgt im Labor der wichtigste Schritt des Behandlungskonzepts: der Versuch, in den Biopsien Spermien nachzuweisen. Somit erfährt der Patient noch am gleichen Tag, ob die TESE erfolgreich war.
Hierfür gibt es unterschiedlichste Methoden und Techniken. Wir bevorzugen die „wet-prep-Methode“, bei der das Gewebe nur ein wenig auseinandergezupft und direkt auf einen Objektträger zur mikroskopischen Befundung verbracht wird. Da die Feinstruktur des samenbildenden Gewebes in der Biopsie nur wenig verändert wird, kann ein sachkundiger und erfahrener Untersucher eine einzelne Biopsie sehr schnell und mit großer Sicherheit auf das Vorhandensein kleiner Areale mit Spermatogenese überprüfen.
Beim Nachweis von Spermien erfolgt die Kryokonservierung (Abkühlung bis auf -196°C) des gesamten Präparates. Auf diese Weise treten so gut wie keine Zellverluste auf. Diese Kryokonservate können dann später bei Bedarf aufgetaut und die darin enthaltenen Spermien für ICSI-Versuche verwendet werden. Da zumeist mehrere (praktisch unbegrenzt haltbare) Konservate zur Verfügung stehen, eröffnet sich hier in manchen Fällen die Möglichkeit für eine komplette Familienplanung.
Sofern nicht genetische Befunde gegen eine Operation sprechen (z.B. bestimmte Y-chromosomale Mikrodeletionen), wird die Strategie der operativen Gewebsentnahme von der Vorgeschichte (Anamnese) sowie der aktuellen hormonellen Situation abhängig gemacht. Besonders wichtige „Markerhormone“ sind das aus der Hirnanhangsdrüse ausgeschüttete Follikel-stimulierende Hormon (FSH) sowie das im Hoden produzierte Inhibin B. Liegen die Werte beider Hormone im Normalbereich, so reichen Gewebsentnahmen an einer einzigen Stelle des Hodens aus.
Finden sich aber Abweichungen (FSH zu hoch, Inhibin B zu niedrig), so sind mehrere (multilokuläre) Biopsien aus unterschiedlichen Stellen zu empfehlen, da in diesen Fällen mit einer ungleichmäßigen Beschaffenheit des Hodengewebes gerechnet werden muss (Spiess et al., 2008).
OA (normales FSH und Inhibin B): Spermiennachweis in ca. 80-90% der Fälle. Bei den verbleibenden 10-20% besteht zumeist ein Keimzell-Reifungsarrest, d.h. das Entwicklungsniveau ICSI-geeigneter Spermien wird nicht erreicht.
NOA (FSH erhöht, Inhibin B herabgesetzt): Spermiennachweis in ca. 30–65% der Fälle (Schulze et al., 1999). Die Erfolgschance bei den NOA-Fällen wird maßgeblich von der Methode der postoperativen Test-TESE sowie der Kompetenz des Untersuchers bestimmt. Diese Faktoren sind leider in den meisten klinischen Studien zum Thema „TESE“ nicht hinreichend berücksichtigt worden.
Über den Zeitraum 2016 - 2019 konnten bei uns mit Spermien aus TESE-Proben nahezu identische Geburtenraten erzielt werden wie mit ejakulierten Spermien. Auch hier ist die Erfolgsquote abhängig vom Alter der Patientin.
Die „Erfolgschancen“ für Spermien aus dem Ejakulat und für kryokonservierte/aufgetaute TESE-Spermien sind unter ICSI-Bedingungen identisch.
In neueren Untersuchungen konnte ein Zusammenhang zwischen erhöhter DNA-Fragmentationsrate bei ejakulierten Spermien und gesteigerter Frühabortrate nahe gelegt werden. In einer von uns unterstützten und mitbetreuten Doktorarbeit konnte gezeigt werden, dass die DNA-Fragmentation reifer Spermatiden bzw. testikulärer Spermien im Hoden selbst noch sehr gering ist (Duhnke, 2011). Insofern könnte erwogen werden, Männern, bei deren Partnerinnen es ohne ersichtlichen Grund zu wiederholten Frühaborten gekommen ist, einen TESE-Versuch anzubieten. Dieser Behandlungsansatz hätte derzeit allerdings noch versuchsweisen Charakter.
In den letzten Jahren wurde zunehmend die sog. Mikro-TESE (microdissection testicular sperm extraction) als Methode der Wahl zur Gewinnung testikulärer Spermien propagiert. Es handelt sich hierbei um einen relativ zeitaufwändigen, invasiven Eingriff, bei dem der Hoden komplett freigelegt und der Länge nach aufgeschnitten wird. Nachfolgend versucht man unter dem Operationsmikroskop mögliche Areale mit spermatogenetischer Aktivität zu identifizieren. In den meisten vorliegenden wissenschaftlichen Publikationen zum Thema wird über eine Erhöhung des TESE-Erfolgs durch die mikrochirurgische Technik berichtet. Diese Angaben beziehen sich aber auf einen Vergleich von „Erfolgsraten“ TESE vs. Mikro-TESE des jeweils individuellen Autors. Hier gibt es allerdings bereits bei Angabe der Bezugsgröße (Resultat der konventionellen TESE) beträchtliche Unterschiede zwischen den Untersuchergruppen.
Beim Vergleich der publizierten Mikro-TESE-Resultate mit unseren eigenen Daten aus den weniger invasiven konventionellen TESE-Versuchen gibt sich kein Vorteil des mikrochirurgischen Vorgehens zu erkennen.